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22.11.2022 | Eine Lektion in Sachen Menschlichkeit
Jugendliche der Inselschule Fehmarn sprechen über Flüchtlinge auf dem Mittelmeer
Gegen Ende der etwa dreistündigen Veranstaltung unter dem Leitwort „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“ ist es dann dieser eine Moment, der deutlich macht, warum die Rettung von Menschen aus dem Mittelmeer keine abstrakte politische Frage ist, sondern eine konkrete Frage des Überlebens: Eine junge Frau fragt, wie die Crew eines Rettungsschiffs damit umgeht, wenn sie Leichen an Bord der Flüchtlingsboote findet. Sie selbst würde das wahrscheinlich zerbrechen, sagt die Schülerin, deren Herkunft im Dunkel des Kinosaals weder zu sehen- noch anhand ihrer Aussprache zu erahnen ist. Dann erzählt diese Schülerin, dass sie selbst 2015 aus Eritrea über Libyen, das Mittelmeer und Italien nach Deutschland geflüchtet ist.
Ihre Wortmeldung lässt so manchen im Raum schlucken. Plötzlich wird nicht mehr nur über Flüchtlinge geredet, sondern mit ihr meldet sich eine Überlebende zu Wort und holt eine Geschichte aus dem Mittelmeer mitten in den Kinosaal in Burg auf Fehmarn. Dort haben sich am vergangenen Mittwoch (16. November) etwa 150 junge Leute der Inselschule Fehmarn im Rahmen eines Projekttages versammelt.
Auch Ingo Werth muss schlucken. Als Kapitän des Segelschiffs „Nadir“ vom Verein RESQSHIP war er auf einer zweiwöchigen Rettungsmission in der zweiten Junihälfte im Mittelmeer unterwegs. Er und sein Team haben auf dieser Tour, so berichtet er in seinem Foto-Vortrag, bei sieben Einsätzen 292 Menschen vor dem wahrscheinlichen Tod durch Ertrinken gerettet. Menschen, die in völlig überfüllten und für die Seefahrt nahezu untauglichen Booten unterwegs waren. Er berichtet von schwierigen Situationen und von geglückten Rettungen. Er erläutert im Detail, wie so eine Rettung abläuft, warum die Menschen zum Beispiel möglichst nicht an Bord genommen, sondern zu Booten der italienischen Küstenwache begleitet werden, deren Besatzungen meist wesentlich hilfsbereiter seien als etwa die maltesischen Kräfte.
Und er erzählt, wie es denn ist, wenn die Crew immer wieder auch Tote auf den Booten findet und wie er persönlich versucht, damit umzugehen. Die Thematik wird dadurch deutlich greifbarer als in nüchternen Zeitungsberichten.
Zum Gespräch eingeladen hatte der aus einem halben Dutzend Frauen und Männern bestehende Arbeitskreis, der sich unter dem Dach der Kirchengemeinde Burg für Menschen einsetzt, die über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen versuchen. Mitglieder sind neben dem früheren Propst Matthias Wiechmann etwa auch Daniel Hettwich, Flüchtlingsbeauftragter des Kirchenkreises Ostholstein, und Astrid Faehling vom Frauenwerk.
Der Arbeitskreis hatte dazu beigetragen, dass sich der Stadtrat der Gemeinde Burg im März 2021 einstimmig dafür aussprach, die Insel zum „Sicheren Hafen“ zu erklären. Er verstehe nicht, so die kritische Anmerkung von Ingo Werth, warum dem Beschluss bislang noch keine Eintragung in die Liste der „Sicheren Häfen“ bei der Initiative Seebrücke gefolgt sei. Eine Botschaft, die auch Bürgervorsteherin Marianne Unger hört, die im Publikum sitzt.
Auf dem Podium im Kino moderiert Astrid Faehling das Gespräch mit Daniel Hettwich, mit Kapitän Werth sowie Heinke Hafemann von Amnesty International in Neustadt, mit Falko Siering von den Grünen in Burg und Stefan Schmidt, dem schleswig-holsteinischen Landesbeauftragter für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen. Sie alle sprechen sich für einen stärkeren Schutz geflüchteter Menschen aus und fordern die jungen Leute auf, sich für die Menschen zu engagieren – sei es durch Briefe an Abgeordnete oder durch persönliches Engagement in Flüchtlingsinitiativen.
Die jungen Erwachsenen aus den Oberstufenjahrgängen der Inselschule zeigen sich an diesem Morgen als inhaltlich gut vorbereitete und sehr konzentrierte Zuhörer, die konkrete Fragen an das Podium haben: Wer finanziert die Rettungsmissionen? In welchen Sprachen wird zwischen Helfern und Behörden verschiedener Länder kommuniziert? Wie oft sind Tote auf den Booten zu finden? Worin liegt das zentrale Problem einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik? Liegen die Menschen den Deutschen auf der Tasche? Was war das schönste Erlebnis auf der Mission im Juni? Wie qualifiziert man sich für die Teilnahme an so einer Rettungsmission?
Am Ende wird klar, dass die jungen Leute im Kleinen selbst etwas tun können, damit die Menschen gar nicht erst eine gefährliche Reise übers Mittelmeer antreten. Denn die Staaten in Europa tragen nach Ansicht der Podiumsteilnehmer durch ihr Konsumverhalten eine große Verantwortung für Armut und Klimawandel, die zu den wichtigsten Fluchtursachen zählen.
Der Grüne Falko Siering erinnert daran, dass Politik aber immer auch das Ergebnis von Kompromissen ist und alle Beteiligten fordern die Jugendlichen auf, sich zu engagieren: in Parteien, in Nichtregierungsorganisationen und in der Kirche. Und Heinke Hafemann sagt, dass viele Menschen auch deswegen flüchten, weil sie anders als die Menschen etwa in Deutschland „keine Demokratie haben“.
Ach ja, das schönste Erlebnis an Bord der „Nadir“: Berührende Momente habe es viele gegeben, sagt Ingo Werth. Spontan kommt ihm der Moment in den Sinn, als eine gerettete Frau aus Nigeria ihre drei kleinen Kinder den Crewmitgliedern in die Hand drückte und vor Freude einen Tanz auf dem Achterdeck hinlegte. Ihr Name lautet Maria.
Von Marco Heinen
Artikel als PDF: Eine Lektion in Sachen Menschlichkeit
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